„Das Original ist untreu gegenüber
der Übersetzung.“
Jorge Luis Borges
profilo

„Der Übersetzer ist offensichtlich der einzige authentische Leser eines Textes. Sicherlich mehr als jeder Kritiker, vielleicht sogar mehr als der Autor selbst. Denn von einem Text ist der Kritiker lediglich der flüchtige Liebhaber, der Autor Vater und Ehemann, der Übersetzer hingegen der Liebhaber.“

Gesualdo Bufalino

„Dies soll der perfekte Übersetzer tun; ohne nach rechts oder links abzuschweifen, soll er den expressiven Grund seiner Mühe finden; seine Persönlichkeit annulliert sich nicht, da dies unmöglich ist, sie wird jedoch durchsichtig, reduziert sich fast zu einer Kristallwand, die ohne Verzerrungen das, was auf der anderen Seit ist, durchblicken lässt, durch ihre Dicke aber die Räumlichkeiten getrennt hält.“

Benvenuto Terracini

Ein guter Übersetzer – so die Überlieferung – ist unsichtbar.

Etymologisch betrachtet, kommt das Wort „Übersetzen“ aus dem Lateinischen trans- ducere, was für „über-führen“, „übertragen“, „auf die andere Seite bringen“ steht. Seit ich begonnen habe, mir Fragen über den Übersetzungsprozess, den literarischen insbesondere, zu stellen, habe ich stets das Bild eines Schreins vor Augen gehabt, der mit funkelnden Edelsteinen und Goldkieseln gefüllt ist und den es unversehrt von einem zum anderen Ufer eines Bachs zu tragen gilt (jeweils Sprache und Kultur des zu übersetzenden Texts und sprachlich-kulturelles Zieluniversum), dabei stets versuchend, das kostbare Gut so wenig wie möglich „nass zu machen“ oder im Bach zu verlieren. Einerseits wird vom Übersetzer verlangt, (nahezu) „allwissend“ zu sein: Er soll am besten die Übersetzungstheorie, Grammatik und Syntax des betreffenden Sprachenpaars kennen, die Übersetzungstechniken und -strategien, das Zielpublikum, die Wünsche des Auftraggebers, das Gesamtwerk des übersetzten Autors, die kulturelle Welt, in der er lebt oder gelebt hat, die betreffende Sekundärliteratur und so weiter, außerdem über angeborene kreative Fähigkeiten verfügen und die Hilfe von Wörterbüchern, Glossaren und Handbüchern effektiv zu nutzen wissen.

Andererseits, um vollkommen in einen literarischen Text und in dessen Übertragung „abzutauchen“, sollte der Übersetzer Tabula rasa mit allen soeben genannten Kenntnissen machen. Um sich an einen literarischen Text „anzuschmiegen“ bedarf es in gewisser Weise einer Annullierung, man darf also die eigenen Vorlieben und Abneigungen nicht denjenigen des Autors aufzwingen, sondern vielmehr zu dem Originaltext ein Verhältnis aufbauen, das treffenderweise als „intuitive Intimität“ bezeichnet wurde. Erst später und mit einem gewissen Abstand, idealerweise auch zeitlich gesehen, sollte man den selben Weg noch einmal zurückgehen und die eigene Arbeit erneut betrachten, diesmal mit dem kritischen Blick des Korrekturlesers und Revisors.

Die Übersetzung kann in diesem Sinne wie eine Meditationsübung betrachtet werden: Sich den Ausgangstext (Struktur, Handlung, Charaktere, Sprache, Rhythmus) einverleiben, in alle Zellen dringen lassen, ihn assimilieren. Schließlich sich leeren, wiederlesen und übersetzen aus einer objektiven, kritischen Entfernung, und ohne Vorurteile jenen Leerraum mit den „passenden“ Worten füllen, die alleine entspringen werden, vorausgesetzt, es sind Gaben wie Sensibilität, musikalisches Ohr, sicherer Umgang mit Sprache und Stil gegeben. Nimmt man den Text wie eine Musikpartitur wahr, kann der Übersetzer als Interpret eines Stückes gesehen werden, ein Geiger oder Pianist, der das zum Vibrieren und Klingen bringt, was schon geschrieben ist. Seine Aufgabe ist, wie bekannt, die Stimme des Autors so herauszuheben wie sie ist, dabei versuchend, ihr Körper und Volumen mit anderen Mitteln zu verleihen. Je bescheidener er ist, im Sinne von flexibel und dazu bereit, sich vom „Geist des Textes“ durchdringen zu lassen, desto treuer wird ein Übersetzer dem Text gegenüber sein und somit seiner sprichwörtlichen Rolle als „Bindeglied“, „Sprachvehikel“, „Brückenbauer“ und „Wortüberführer“ gerecht werden. Gelingt ihm sein Unterfangen, ist die des Übersetzers also eine bewusste, Wort für Wort, Seite für Seite erarbeitete, fühlbare und vielsagende Unsichtbarkeit.